Herbstnacht. Der unerbittliche Nordwind fegt über die Heidelandschaft, sucht und findet die Ritzen in der Bretterverkleidung des kleinen Atelierhäuschens am Rande eines Heidedorfes. Mächtiger, gleichmäßiger Trommelklang füllt das Innere des Häuschens, verwebt sich mit dem Geheul des Windes. Die Samenklappern am Handgelenk der Trommlerin rasseln mit jedem Trommelschlag mit, vermischen sich mit dem an die Fensterscheiben prasselnden Regen zu einem gemeinsamen Gesang.

Ein glühendes Holzkohlebecken lässt den Kreis der stehenden Menschen im Raum nur schemenhaft erkennen. Würziger Rauch durchzieht den Raum, auf den Holzkohlen verglimmt Wachholder.

Die Trommlerin steht außerhalb des Kreises. Innerhalb der Runde der stehenden Gestalten liegt jemand ausgestreckt auf dem Boden.

Alle zeigen die gleiche Körperhaltung: Mit geradem Rücken stehen sie, die Knie leicht gebeugt, die Füße parallel.

Die Oberarme liegen locker am Oberkörper an.

baerenhaltung-haltung120Die Hände sind zu Fäusten geformt, so als würden sie ein kleines Ei umfassen.

Die Fäuste liegen so über dem Bauchnabel, dass sich nur die Knöchel der Zeigefinger berühren und so die Spitze eines nach unten geöffneten Dreiecks bilden. Die Fäuste sind fest an den Körper gedrückt.

Die Köpfe sind in den Nacken gelegt, die Münder sind geöffnet.

Die Frau in der Mitte des Kreises liegt in der gleichen Körperhaltung. Damit auch im Liegen die Knie gebeugt sind, wurde ein Kissen unter die Knie gelegt. Eine gerollte Decke ist unter den Nacken gelegt, so dass der Kopf nach hinten fällt.

Würde ein neugieriger Beobachter sich von Regen und Sturm nicht erschrecken lassen und sein Gesicht an die Scheibe pressen um etwas von dem Szenario im fast dunklen Raum erkennen zu können, würde es sicherlich Befremdung in ihm auslösen – oder sogar Angst. Was geht da im Dunklen vor sich? Eine Versammlung von Hexen, Spiritisten, Satanisten oder eine neue Eso-Sekte?

Nichts von alledem!

Keine wie auch immer orientierte Glaubensgemeinschaft hat sich hier zu einem Ritual zusammengefunden, sondern Menschen, die nur eines zusammengeführt hat: ein offener Geist und die Bereitschaft, die Filter der Wahrnehmung mit Hilfe von Rhythmus und einer Körperhaltung so zu verändern, dass die Erfahrung mit allen Sinnen in einen ganzheitlichen, heilsamen Zustand der Erkenntnis führen kann.

Was dort in dieser Herbstnacht die Menschen miteinander praktizieren, sind „Rituelle Körperhaltungen“, die in einen Zustand der ekstatischen Trance führen können.

Ekstase – ein anrüchiger Begriff in unseren Zeiten: Hemmungslosigkeit, Exzess, Drogen.

„Der natürliche Zustand des Menschen ist das ekstatische Staunen, mit weniger sollten wir uns nicht zufrieden geben.“Midpeninsula Free University, Kalifornien 1969, Bulletin

Doch die Sehnsucht nach Ekstase ist untrennbar verbunden mit der Geschichte des Menschen: weit zurück in die Frühzeit der Menschen zeugen archäologische Funde von dem Bemühen der Menschen, sich willentlich in einen außergewöhnlichen Zustand der Wahrnehmung und des Erkennens von „Wirklichkeit“ zu versetzen. Rhythmus, Bewegung, Konzentrierung, Gesang, Räucherungen, entheogene Pflanzen waren und sind die hauptsächlichen „Schlüssel“ zum „Verschieben der Wahrnehmungsfilter“ zur unmittelbaren Erfahrung und zum Erkennen der Vielfalt von Wirklichkeiten und Welten.

Ekstatisches Erleben ist gekennzeichnet von einem angstfreien Hochgefühl, das zugleich auch das Gefühl eines „Geborgenseins“, einer „Weite“ enthält und das Erkennen, mit allem, was ist, ohne Beschränkung von Zeit und Raum verbunden zu sein. Dieser Zustand wird von den Mystikern oft als „Süße“ beschrieben.

Die Voraussetzung zum Erreichen dieses heilsamen Zustands der Erkenntnis ist in jedem Menschen angelegt, immer noch. Alles, was wir zum „wahren Sehen“, zum Erkennen der Wirklichkeit benötigen, tragen wir mit uns.

„Der Zustand der Trance ist eine im Menschen angelegte Erfahrungsmöglichkeit. Trance ist die biologische Tür zur anderen, heiligen Wirklichkeit. Das Körpererlebnis allein ist keine Bewusstseinserweiterung. Durch die rituelle Körperhaltung und die damit verbundene Absicht kann man mit allen Sinnen zum ekstatischen Erleben kommen. Ekstatisches Erleben ist das, was wir in der anderen Bewusstseinsdimension erfahren.“

Zu verdanken haben wir die Wiederentdeckung der „Rituellen Körperhaltungen“ der im März 2005 im Alter von 91 Jahren verstorbenen Anthropologin Dr. Felicitas D. Goodman.

Der wissenschaftliche Ausgangspunkt für die Trance-Abenteuer dieser bemerkenswerten Anthropologin war ihre Forschung über Sprache, Rhythmus und Trancezustände in religiösen Gemeinschaften. Gewohnt, ihr Leben mit Wachheit und Willenskraft auch in schwersten Situationen zu meistern, vereinte die 1914 in Ungarn geborene Anthropologin in sich die Qualitäten von außerordentlichem Wissen, Bescheidenheit und humorvoller Strenge. Angeregt durch den berühmten Zufall bei der Suche nach dem Türöffner für einen Trancezustand brachte sie Körperhaltungen in Verbindung mit rhythmischer Anregung. Den ersten Anstoß zur Idee der rhythmischen Anregung gab ihr die Abbildung eines trommelnden Sami-Schamanen

und der mit Rasseln erzeugte schnelle Rhythmus von 210 bpm (Schlägen pro Minute) bei den Korntänzen der Pueblo-Völker New Mexikos, den sie auch auf vielen Tonbandaufnahmen anderer indigener Völker wiederentdeckte.

Zahlreiche als Höhlenzeichnungen oder Skulpturen überlieferte rituelle Körperhaltungen aus der Frühzeit der Kulturen vieler Völker führten Dr. Felicitas Goodman und ihre Mitarbeiterinnen bei ihren nun schon über 30igjährigen Forschungsarbeiten immer tiefer ein in den uns überlieferten Reichtum der „Landkarte“ der Bewusstseinswelten.

Es ist vermessen, anhand der wenigen gefundenen Stücke aus der Frühzeit der Menschheit Konzepte aufzustellen über Denken und Glaubensvorstellungen unserer frühen Menschenahnen und -ahninnen. Alle Konzepte sind beeinflusst von der Art und Weise, wie wir heute Leben betrachten, werten, erklären – wir tun es nach unserer heutigen Sicht und Einsicht von „Welt“.

Die archäologischen Fundstücke sind aber nicht nur Vermächtnisse aus der Vergangenheit. Sie sind Teil der Gegenwart in dem Moment, in dem ich sie jetzt, in der Gegenwart, wahrnehme. Und so werden sie auch zu einem Teil der Zukunft, denn es kann sein, dass sie noch sichtbar da sind, wenn ich nicht mehr unter den Lebenden bin, wenn ich Vergangenheit bin.

„Jetzige Zeit und vergangene Zeit sind vielleicht gegenwärtig in zukünftiger Zeit, und die zukünftige Zeit ist enthalten in der Vergangenheit.“ T. S. Eliot

Der „Vogelmann“ aus der Höhle von Lascaux, der “ gehörnte Zauberer mit Bärenpranken, Pferdeschweif und Vogelaugen“ und der „Bisontänzer“ aus der Höhle von Les Trois Frères, der „Zauberer von Lourdes mit Tierschwanz und Hirschgeweih“ in der Höhle Les Espelugues und die „Alte von Malta-Belaja“, Sibirien, sind neben der „Frau vom Galgenberg“ und der „Frau von Willendorf“ die bekanntesten der altsteinzeitlichen „Erzähler“. Sie erzählen uns nicht nur von den geistigen Welten unserer europäischen AhnInnen, sie öffnen uns im Ritual der Körperhaltungen auf immer neue Weise Zugänge zum raum- und zeitunabhängigen Informationsfeld des Lebens. Das Erleben im Zustand der durch Körperhaltung und Rhythmus hervorgerufenen Trance kann zum heilsamen Erkennen der eigenen Lebenszusammenhänge führen, zum sinnenhaften Erfahren der Verbundenheit mit der Matrix, der Urquelle dieses lebendigen, sich immer neu schöpfenden Informationsfeldes.

Felicitas Goodman hat diese Erfahrungsmöglichkeit allen geistigen „Weltenwanderinnen“ und „Erkenntnissucherinnen“ als einen undogmatischen geistigen Weg zum Geschenk gemacht.

Die einzigen Voraussetzungen für das Beschreiten dieses Wegs mit dem „Fahrzeug“ des eigenen Körpers sind: ein offener Geist, die Bereitschaft zur Wahrnehmung und die exakte Ausführung der Haltung. Unser Körper ist ein weit gefächertes „Instrument der Wahrnehmung“.

„Mein ganzer Körper ist nichts als Augen.Schaut ihn an! Habt keine Angst!Ich schaue nach allen Seiten.“Gesang eines Inuit-Schamanen, aus: Mircea Eliade: Schamanismus und archaische Ekstasetechniken

Jeder Heilungsprozess ist ein Erkenntnisprozess, ausgehend von dem Moment der Wahrnehmung dessen, was ist. Wahrnehmung ist Sinneseindruck, immer bezogen auf den jetzigen Moment. Wahrnehmung ist eine erhöhte Aufmerksamkeit ohne Wertung.

Die größten Hindernisse für ein erkennendes Wahrnehmen sind festgelegte Denk – und Erklärungsmuster sowie starre Wertungssysteme.

In der Vorbereitung zum Erleben einer durch „Rituelle Körperhaltungen“ induzierten Trance ist es hilfreich, die Aufmerksamkeit auf drei Voraussetzungen zu richten, die den Moment der Wahrnehmung optimieren:

– Geerdet sein – um nicht in Illusionszustände abzuheben oder eigene Wunschvorstellungen zu produzieren;

– Zentriert sein – um die innere Ruhe zu bewahren, unabhängig davon, wie aufregend die Umstände und Ereignisse sind;

– Regelmäßig atmen – um mit dem Gefühlszentrum verbunden zu sein und seiner Intuition folgen zu können.

Die Menschen, die sich in der Herbstnacht zusammengefunden haben, um den Heilungsprozess der in ihrer Mitte liegenden Person zu unterstützen, haben in ihre Vorbereitung zum Ritual diese Voraussetzungen zur Wahrnehmung mit einbezogen. So ist es ihnen leicht gefallen, in die Haltung des „Bären“ zu gehen und ihre innere Aufmerksamkeit auf die liegende Frau in ihrer Mitte zu richten.

Der gemeinsame Fokus ist, den Heilungsprozess der Frau energetisch zu unterstützen.

K., eine Frau von 47 Jahren, ist nach der Trennung von ihrem Mann in einen Zustand der Depression gefallen. K: „Ich habe das Gefühl, nichts mehr wert zu sein. Ich fühle mich in viele kleine Teile zerrissen, bin abgrundtief traurig und müde.“

K. hat schon als Gruppenteilnehmerin einige Trancehaltungen erfahren, in denen sie mit verändertem Blick die Geschichte ihrer Ehe klärend aber nicht wertend hat wahrnehmen können. Doch Traurigkeit und Zerrissenheit sind noch tief in ihr verwurzelt.

So hat sie um diese Einzelsitzung in einem geschützten Kreis gebeten.

Nach der 15minütigen Trance und einer langen Zeit der Ruhe danach erzählt sie:

Anfangs habe ich nichts gesehen, aber ich habe die Schwingungen der Trommel bis in die letzte Zelle gespürt.

Es war mir, als würde ich durch die Trommel wie mit einem Teppichklopfer ausgeklopft, ich fühlte mich immer leichter im ganzen Körper.

Vom Nacken her wurde mir ganz heiß. Dann fühlte es sich an, als ob mir von dort aus ein warmes, weiches Fell über den Kopf und dann über den ganzen Körper gezogen wurde.

Das war ein sehr wohliges, geborgenes Gefühl.

Plötzlich sah ich ganz klar, wie überscharf: ich war ein kleines Bärenkind, lag im Schoss einer riesigen Bärin, deren Präsenz ich körperlich ganz klar spürte. Vor mir kniete ein anderer Bär. Ich sah, wie er mit einem Hieb seiner Tatzen meine Brust aufriss. Ich war es, der diesem Bär die Brust aufriss, aber gleichzeitig habe ich das Ganze mir wie von oben angesehen. Ich hatte keine Angst.

Mit entschiedenen Griffen riss mir der Bär mein Herz aus dem Leib und warf es in ein Feuer, was hinter ihm brannte.

Mein Herz verbrannte, aber es tat nicht weh. Dann griff der Bär ins Feuer und hielt ein scharlachrot leuchtendes Herz in der Hand. Dieses Herz zuckte, als ob es tanzen würde.

Ich musste lachen. Der Bär setzte es wieder in meine Brust ein, leckte meine Brust mit seiner Zunge ab, das war sehr lustvoll. Dann schloss sich der offenen Brustkorb. Ich war plötzlich kein Kind mehr, ich war riesengroß und rannte auf allen Vieren mit einer Gruppe von Bären durch weiches Moos. Ich war voller Glück.

Nach der Trance wollte ich gar nicht die Augen öffnen, mein Körper fühlte sich vollkommen und leicht und süß an, wie verliebt.

Ich habe das Gefühl, dass ich mit meinem wirklichen „inneren Zuhause“ in Kontakt gekommen bin. Es wird Zeit, dass ich mein „Zuhause “ besser kennen lerne, meine eigentliche Kraft, damit ich es auch nach außen mit Freude leben kann.“
baerenhaltung-figur-1-120Die „Bärenhaltung“, deren Abbildung in vielen Kulturen gefunden wurde, kann nicht nur baeren-2-175starke allgemeine Energetisierung bewirken, sondern hat auch das Potential, die eigenen Heilenergien zu aktivieren und Prozesse der Erneuerung einzuleiten – für sich selbst und auch für andere.

In den 30 Jahren der Erforschung und Praxis der rituellen Körperhaltungen ist diese Technik mehrfach auf ihre Wirkung hin untersucht wurden: Gehirnmessungen, Blutuntersuchungen, sichtbar und hörbar gemachte Hirnaktivitäten während der Trance. Es ist sicherlich hilfreich bei der Annäherung an Trancerituale und veränderte Bewusstseinszustände, durch wissenschaftliche Untersuchungen Ängste, Vorurteile und andere Barrieren durch „Beweise“ zu überwinden.

Das, was für die Einzelne in der Erfahrung einer Trance geschieht und warum dieses Erleben möglich ist, das ist durch keine Untersuchung zu beweisen.

Zu beweisen ist ein verändertes „Schwingungsfeld“ von Gehirnwellen, interpretiert je nach dem wissenschaftlich zeitgemäßen Bedeutungsinhalt oder der „Weltanschauung“ des messenden Forschers.

Es gibt nur einen Weg, das zu erfahren, was im Zustand einer Trance geschehen kann: im eigenen Erfahren der Trance!

Die Erfahrungen haben gelehrt, dass es ratsam ist, den ersten Schritt in die „andere Wirklichkeit“ nicht ohne geübte Begleitung zu unternehmen. Nur mit Hilfe einer Buchanleitung zusammen mit dem richtigen Rhythmus auf der CD alleine den ersten Schritt zu gehen birgt viele Stolpersteine in sich, die Anfänger verunsichern und verzagen lassen können.

„Erfahrung ist nicht das, was einem Menschen geschieht. Es ist das, was ein Mensch aus dem macht, was ihm geschieht.“ Aldous Huxley

Die „Rituellen Körperhaltungen“ entstammen aus dem geistigen Kontext einer Weltsicht die sich darauf gründet, dass alles was ist, in Resonanz miteinander steht, und dass alle Erscheinungsformen von Leben einen „Geist“ haben. Diese Weltsicht wird heute unter dem Begriff „Schamanismus“ zusammengefasst. Die Technik, durch Körperhaltung und Rhythmus absichtlich in einen veränderten Bewusstseinszustand zu gehen, wird oft mit dem Begriff „schamanische Reise“ bezeichnet. Mit Respekt vor den immer noch im Weltbild des Schamanismus lebenden Kulturen: „Schamanisch“ reisen kann nur eine Schamanin! So viele Seminare man auch besucht, so viele „schamanische“ Techniken man sich auch aneignet – Schamanen und Schamaninnen gibt es nur in Gemeinschaften, die in der Weltsicht des Schamanismus leben.

Das heißt nicht, dass es in unseren „westlichen“ Technik-Kulturen nicht auch integere, wirkungsvolle Heilerinnen gibt! Wir verdanken es vielen „echten“ SchamanInnen aus indigenen Kulturen, dass wir in unserer Kultur wieder Zugang bekommen haben zu Möglichkeiten, willentlich unsere Wahrnehmungsfilter so zu verändern, dass es uns auch in unserer technisierten „Vereinzelungs-Welt“ möglich ist, die Vielfalt der Wirklichkeiten zu erkennen und zu bereisen.

„Nur durch Ekstase gelangt der Mensch zur vollen Realisierung seiner Situation in der Welt und seines endlichen Schicksals.“Mircea Eliade, „Schamanismus und archaische Ekstasetechniken“

Text und Fotos © Nana Nauwald
Verwendung des Artikels mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift „Hagia Chora“
www.geomantie.net

Alle Texte & Grafiken © Nana Nauwald
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